In meinen Worten: Moritz Hartmann über Saisonvorbereitung und Zielsetzung als Schiedsrichter

Ob Titelkampf oder Kellerduell in der DAIKIN HBL, ob Spitzenspiel oder Abstiegsthriller in der Handball Bundesliga Frauen, ob ein Nachbarschaftsderby in der 3. Liga oder die Finalrunde der Deutschen Jugend-Meisterschaft: Seit 2020 können die Schiedsrichter*innen des Deutschen Handballbundes (DHB) bei ihren Einsätzen auf die Unterstützung der KÜS bauen. Die knapp 300 Unparteiischen eint die Leidenschaft für das Pfeifen, und doch bringt jeder seine eigenen Erfahrung, seine eigenen Antrieb, seine eigene Geschichte mit. In der Interviewserie „In meinen Worten“ widmen sich ein oder zwei Unparteiische einem speziellen Thema. In diesem Monat geht es mit Moritz Hartmann aus dem Bundesliga-Kader - passend zum Start in die neue Spielzeit - um die Saisonvorbereitung und -ziele als Schiedsrichter…

Trainingslager, Testspiele, Teambuilding: Vor dem Saisonstart Ende August schwitzten die Bundesliga-Mannschaften in der Saisonvorbereitung. Wie sieht das jährliche Sommer-Programm als Bundesliga-Schiedsrichter aus? 

Der große Unterschied für uns im Vergleich zu den Mannschaften: Wir bereiten uns den Großteil der Zeit alleine vor. Nils und ich wohnen eine Stunde mit dem Auto auseinander, da ist das gemeinsame Training nicht praktikabel. Nach dem Ende des Sommerurlaubs steht aber auch für uns ganz klassisch zunächst das Lauftraining an, ebenso ein bisschen Krafttraining. Die Testspiele sind hingegen für Mannschaften und Schiedsrichter eine große Gemeinsamkeit, denn alle müssen sich erst einmal wieder finden. 

Die Mannschaften müssen neue Spiele integrieren. Inwiefern müssen sich Schiedsrichter-Team finden, die seit Jahren zusammen pfeifen? 

Gerade am Anfang der Vorbereitung sind bei uns auch Dinger drin, an denen wir merken, dass wir einige Wochen nicht gepfiffen haben. Wir brauchen die Testspiele, um unseren Rhythmus wiederzufinden und die Abläufe wieder abzurufen. Zum Glück spielen auch die Mannschaften oft noch mit angezogener Handbremse und verzeihen einen krummen Pfiff mehr als im Pflichtspiel (lacht). 

Sprich: Die Testspiele sind für euch genauso hilfreich wie für die Mannschaften? 

Auf jeden Fall! Neben dem „Einpfeifen“ für die Saison ist es auch hilfreich, weil wir in der Vorbereitung bereits viel von der Taktik der Teams mitbekommen und die Spiele auch eine unkomplizierte Möglichkeit bieten, in den Austausch zu gehen. Das ermöglicht es uns, uns auf gewisse taktische Entwicklung einstellen zu können. Wir haben bereits an den ersten Spieltagen gesehen, dass beispielsweise vermehrt mit vier Rückraumspielern ohne Kreisläufer gespielt wird, das hat letztes Jahr gefühlt nur Eisenach gemacht. Da wir das in der Vorbereitung gesehen haben, hat es uns am 1. Spieltag nicht überrascht. 

Machen wir noch einmal einen Schritt zurück: Gelingt es in der saisonfreien Zeit tatsächlich, abzuschalten? Denn im Gegensatz zu den Profihandballern, die in der Regel tatsächlich Urlaub haben, seid ihr alle abseits des Pfeifens normal berufstätig. 

Das ist eine spannende Frage. Dieses Jahr war die Handballsaison in der 2. Bundesliga noch nicht so zu Ende wie erwartet, wir haben alles um das Wiederholungsspiel verfolgt und daher weniger abgeschaltet als sonst. Grundsätzlich versuchen Nils und ich aber tatsächlich immer, direkt nach der Saison in den Urlaub zu fahren, denn dann sind die Akkus einfach leer. Die letzte Woche vor dem Urlaub war, so ehrlich muss ich sein, auch auf der Arbeit wirklich zäh. Ich habe einfach gemerkt, dass ich durch war und eine Pause brauchte. 

Magst du einen kurzen Einblick geben, warum auch für die Schiedsrichter am Saisonende die Akkus leer sind? Bei der Betrachtung von Außen würde man ja sagen: Die Spieler stehen immerhin jeden Tag in der Halle, der Schiedsrichter oft nur einmal in der Woche … 

Du glaubst nicht, wie oft wir diese Frage tatsächlich hören (lacht). Ich glaube, das liegt in erster Linie daran, dass die Perspektive des Schiedsrichters nicht beleuchtet ist. So wird beispielsweise häufig vergessen, dass für uns anders als für die Mannschaften jedes Spiel ein Auswärtsspiel ist. Wenn wir zwei bis drei Stunden zum Spiel fahren, zählt das für uns nicht als weit; es können aber eben auch mal viereinhalb, fünf Stunden oder mehr werden. Außerdem müssen wir die Spiele unter der Woche mit der Arbeit vereinbaren. Wenn Spieler von einem Auswärtsspiel spätnachts zurückkommen, können sie ausschlafen, weil das Training passend gelegt wird. Für uns beginnt hingegen in der Regel ein normaler Arbeitstag, weil wir gar nicht für jedes Spiel Urlaub nehmen könnten. Ich habe als Rechtsanwalt dann auch mal Gerichtstermine, die sich eben nicht so einfach verlegen lassen; nur, weil wir kurzfristig eine Ansetzung bekommen haben. Diese Doppelbelastung macht es so anstrengend. 

Die 60 Minuten auf dem Feld sind also nur die Spitze des Eisberg … 

Wenn man es ganz hart formulieren möchte, sind die 60 Minuten auf dem Feld zeitlich der geringste Aufwand in der Woche (lacht). Wir haben nicht nur die Fahrten und Auswärtsspiele: wir müssen während der Saison auch trainieren, wir stecken unzählige Stunden in die Vor- und Nachbereitung per Video und alles, was zusätzlich anfällt. Mit Arbeit und Handball sind die Tage oft durchgetaktet. 

Zurück zur Saisonvorbereitung: Welchen Stellenwert hat der Drei-Tages-Lehrgang in Halberstadt?

Wenn wir den Lehrgang nicht bestehen, pfeifen wir nicht. Punkt. Daher ist das Wochenende entscheidend; wir müssen die vier Tests dort bestehen, um in der Saison anzutreten. Daher bereiten wir uns wie bereits beschrieben läuferisch vor und wir gehen die Regelfragen durch. Dieses Jahr gab es umfangreiche Anpassungen. Neben den Tests ist der Lehrgang aber natürlich auch mit Blick auf die Saison bedeutend; wir erfahren durch den Lehrgang, welche Nachschärfungen und regeltechnische Neuerungen es für die kommende Saison gibt. Das sind die Maßstäbe, an denen wir uns in den nächsten Monaten messen lassen müssen. 

Die beiden Lehrgänge (einer im Sommer zur Vorbereitung, einer im Winter zur Halbserie) sind auch die einzige Möglichkeit, euch mit dem ganzen Schiedsrichterkader zu treffen und – wie es Schiedsrichter-Chefin Jutta Ehrmann gerne nennt – sich als 3. Mannschaft zu sehen … 

Das ist super, weil wir die meiste Zeit des Jahres als Schiedsrichter-Team alleine unterwegs sind. Man hat selten das Glück, dass man sich unter der Saison trifft; es lässt oft auch die Zeit gar nicht zu, dass man zusätzlich zu den eigenen Spielen noch bei Kolleg:innen in der Halle ist. Wir kennen viele Kollegen über mehrere Jahre und freuen uns, miteinander zu quatschen. Die Lehrgänge in dieser großen Gruppe sind die einzigen Momente, wo man ein echtes Teamgefühl hat und es ist auch wirklich ein angenehmes Miteinander, wir können bei aller Ernsthaftigkeit viel lachen, das ist schön. 

Ob ihr die Tests bestanden habt, erfahrt ihr direkt auf dem Lehrgang. Wie groß ist die Erleichterung in diesem Moment? 

Am Samstagabend, wenn alle Tests geschafft sind, platzt gefühlt bei allen ein Knoten. Es ist unsere Eintrittskarte für die neue Saison. Wir wissen: Wir haben alles geschafft und jetzt kann es losgehen! 

Wie sehr fiebert ihr den ersten Ansetzungen entgegen?  

Das ist immer pure Vorfreude. Die fünf Wochen Pause, die wir dieses Jahr hatten, waren super und die haben sowohl Nils als auch ich auch gebraucht, aber wenn die Saison wieder startet, ist man einfach heiß drauf! 

Ein weiterer Blick zu den Mannschaften: Trainer und Spieler müssen vor dem Saisonstart immer wieder die Frage nach ihren Zielen beantworten. Wie würde diese Antwort als Schiedsrichter ausfallen? 

Hm…. (überlegt kurz)… man unterhält sich natürlich im Schiedsrichter-Team und setzt sich seine Saisonziele, aber das ist für Schiedsrichter anders als für Mannschaften. Wir formulieren weicher, würde ich sagen, denn man gibt ja anders als die Vereine, die Dritter, Fünfter oder einfach nur nicht Letzter werden wollen, keine Platzierung aus. Wir kennen ja unser Ranking während der Saison auch gar nicht, was ein solches Ziel ad absurdum führen würde – und unser Ranking funktioniert ja auch nicht so wie für die Vereine, weil wir nicht gegeneinander antreten als Schiedsrichter. Daher bemisst sich unsere Leistung nicht durch die Konkurrenz gegen ein anderes Gespann, zumal die Leistungen durch die immer unterschiedlichen nicht eins-zu-eins vergleichbar sind. 

Was bedeutet das für eure Zielsetzung? 

Das oberste Ziel ist natürlich, die Spiele ohne Regelverstöße oder Einsprüche zu pfeifen, so gut wie möglich und am besten so, dass nach dem Spiel keiner etwas von dir will (lacht). Es ist allerdings gemein, denn nur, weil keiner etwas von will, heißt das nicht, dass es auch eine Leistung war, die den Schiedsrichter-Coach überzeugt. Selbst, wenn die Leistung aus Sicht der Mannschaften unauffällig war, kann man als Schiedsrichter subjektiv denken: Oh Gott, was haben wir uns da für ein, zwei Dinger geleistet. Daher läuft es bei uns darauf hinaus, dass wir uns Entwicklungsziele setzen. Wir wollen besser sein als das Jahr davor und wir wollen uns weiterentwickeln. Wenn uns das gelingt, werden wir die notwendigen Punkte automatisch sammeln. 

Zumal ihr auch Glück haben müsst, dass zufällig die „richtigen“ Spiele beobachtet werden und in die Wertung einfließen, nicht wahr? Denn anders als bei den Mannschaften, wo jedes Spiel zählt, fließen von den Schiedsrichtern nur die zehn Partien in das Ranking ein, bei denen ein Schiedsrichter-Coach dabei ist… 

Das stimmt. Manchmal hat man das Glück, ausgerechnet in den zehn Spielen eine krasse Leistung abzureißen; manchmal pfeift man eine richtig gute Saison, aber in fünf von den zehn Spielen mit Coach hat man einfach kein Glück mit seinen Entscheidungen. Dann sieht es nicht mehr rosig aus. Wir wissen als Schiedsrichter auch vorher einfach nie, wie sich ein Spiel entwickelt. Daher würden Nils und ich unsere Entwicklung auch nicht an einem konkreten Platz im Ranking festmachen, sondern an unserer Bewertung der Entwicklung und den Rückmeldungen der Schiedsrichter-Coaches und der Mannschaften. 

Zum Abschluss: Unabhängig von Punkten, Ranking und Tests macht es euch – ähnlich wie den Spielern – einfach Spaß, auf dem Feld zu stehen, oder? 

Definitiv. Wir wollen pfeifen; die Frage, ob wir noch eine Saison dranhängen, stellt sich für Nils und mich nicht. Wir sind Fans des Handballs und das Pfeifen übt eine große Faszination auf uns aus. Es macht wahnsinnig viel Spaß, ein Teil von Spielen in diesem Leistungssport zu sein; nicht nur dabei zu sein, sondern den Handball wirklich mitzugestalten und eine hohe Verantwortung zu tragen. Das macht sicherlich nicht jedem Spaß, aber ich glaube, wenn man der Typ dafür ist, packt es einen einfach. Es macht einfach super Spaß, in einer ausverkaufen Halle zu stehen; auch, wenn der Druck kommt und die Lautstärke ohrenbetäubend ist. Das kann manchmal auch unangenehm sein, aber unter dem Strich steht, dass wir aus solchen Spielen rausgehen und für uns sagen: Boah, das war geil heute! 

Fotos: Felix Schlikis

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